Party auf Demos, ist das ok? Ansichten eines Asketen.
Nach der gestrigen Demo in Stuttgart und unserem kurzen Beitrag dazu, erreichte mich oft die gleiche Rückmeldung: Skepsis darüber, ob die Bewegung wirklich so stark ist, wie wir sie gestern darstellten. Die beiden Hauptpunkte, die dabei vorgebracht werden sind erstens, dass das Bühnenprogramm eher einem Festival als einer ernstzunehmenden, politischen Veranstaltung gleicht und zweitens, dass viele Demonstranten den Anschein erwecken, Bier und Party seien möglicherweise die Hauptbeweggründe für sie Demos, wie die gestrige zu besuchen.
Ich verstehe diese Einwände, stimme ihnen jedoch nicht zu. Bevor ich darauf gleich näher eingehe möchte ich kurz meine eigene Situation schildern. Ich lebe jetzt seit etwa dreieinhalb Jahren recht asketisch. Mein Tag beginnt morgens um halb fünf und ich konsumiere keinerlei Rauschmittel. Die moderne, westliche Partykultur ist also nicht Teil meines Lebens und ich denke daher, dass meine Wahrnehmung nicht positiv zu Gunsten der Feierkultur verzerrt ist.
Nun zur eigentlichen Frage: Warum ist es (aus meiner Sicht) völlig ok, auf den Demos der Freiheitsbewegung zu feiern?
Ein Blick in die amerikanische Geschichte – genauer: die Geschichte der amerikanischen Revolution – hilft das besser zu verstehen. Bars und Tavernen spielten bei der Formierung der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung eine entscheidende Rolle. Sie boten einen Rahmen, in dem man sich auf menschlicher Ebene kennenlernen und Ideen austauschen konnte. Alkohol war dabei wohl allgegenwärtig. Viele führende Köpfe der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung waren sogar direkt in die Produktion und den Vertrieb alkoholischer Getränke involviert.
Ich denke, Alkohol und Party müssen nicht Teil einer wirklich gesellschaftsverwundernden Bewegung sein. Über eine Bewegung, die Frei von diesen Dingen ist, würde ich mich auch sehr freuen. Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Situationen kann es jedoch hilfreich und sinnvoll für eine ernsthafte politische Bewegung sein, solche Elemente zuzulassen. Wenn ich an das Leben vieler fortschrittlicher und alternativ denkender Menschen denke, wie ich es vor der sogenannten Pandemie kennengelernt habe, dann stelle ich fest, dass Feiern und der Konsum von Rauschmitteln unter ihnen recht weit verbreitet war und wahrscheinlich noch ist. Das ist an sich kein Zeichen einer besonders gesunden Gesellschaft, aber dabei handelt es sich um ein Symptom und nicht die Ursache ihrer Krankheiten.
Ein buntes Bühnenprogramm und Feierstimmung samt Alkohol entsprechen dem Zeitgeist. Eine erfolgreiche politische Bewegung ohne sie wäre auch möglich, wünschenswert und wahrscheinlich noch stärker. Dieser Umstand allein, ist aus mein Sicht jedoch noch kein Zeichen dafür, dass es den Demonstranten nicht ernst wäre. Die Bewegung hat eine enorme Stärke, trotz dieser Umstände. Sie besitzt weit mehr Facetten und sollte nicht auf das Feiern reduziert werden. Ähnlich wie Bars und Tavernen in der amerikanischen Revolution das richtige Umfeld für die Formierung einer starken Bewegung boten, können moderne Unterhaltungsangebote heute das richtige Umfeld für die Formierung einer starken Bewegung bieten.