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Über Dankbarkeit, Vorbilder und meine Verantwortung für die Natur

Es ist der 1. März 2022. Nach einer unruhigen und von Träumen begleiteten Nacht starte ich recht müde in den Tag. Nach dem Frühstück beschließe ich, das Leben heute einfach mal fließen zu lassen. Wie immer wäre genug zu tun. Doch heute ist ein Tag, an dem viel Aktivität einfach zu viel wäre.

An der frischen Luft und in der Natur war ich in den letzten Tagen und Wochen recht ausgiebig. In unserem großen Garten gibt es immer viel zu tun. Wir haben neue Bäume und Sträucher gepflanzt, Beete angelegt, ältere Pflanzen gepflegt und beschnitten. Um die vielen neuen Pflanzen in unserem neuen Permakultur Waldgarten vor Rehen und Hasen zu schützen, haben wir mit dem Bau eines Wildzaunes begonnen. Eine besondere Freude für uns ist, dass uns liebe Freunde und Gleichgesinnte dabei unterstützen. Dafür sind wir sehr dankbar.

Mir fällt auf, dass ich schon eine ganze Weile keine ausgedehnte Wanderung mehr unternommen habe. Darum breche ich bei bestem Wetter und strahlendem Sonnenschein zu einem längeren Spaziergang auf.

Mein Weg führt mich zunächst in ein nahegelegenes Waldstück. Die Stürme in den letzten Wochen haben hier ihren Tribut gefordert. Einige große Buchen, Eichen, Kiefern, Fichten und Birken liegen am Boden. Teilweise konnten ihre Wurzeln im vom Regen der letzten Wochen durchweichten Boden dem Sturm nicht standhalten. An anderen Stellen sind die Äste und Kronen mächtiger Bäume gebrochen wie Streichhölzer.

Dieser Anblick macht mich demütig. Er zeigt die Kraft der Natur. Die entstandenen Lücken im späteren Blätterdach des Waldes ermöglichen nun der nachwachsenden Generation an jungen Bäumen so richtig durchzustarten.

In einem anderen Waldstück wurden in diesem Winter viele Tannen und Fichten gefällt. Mit schweren Maschinen wurde der Waldboden geschädigt. Mit den übrigen Bäumen hatte der Sturm leichtes Spiel. Viele von ihnen liegen nun entwurzelt am Boden. Hier hat der Mensch zu stark ins System eingegriffen. Das zeigt mir dieses Bild klar und deutlich.

Noch etwas in Gedanken dieser Eindrücke, sehe ich auf einer schmalen Straße einen älteren Mann mit einem Handstock vor mir laufen. Ich schließe zu ihm auf und wir begrüßen uns. Es ist Herr A., ich kenne ihn schon länger und wir haben schon so manches gute Gespräch geführt. Nun sehen wir uns seit einiger Zeit das erste Mal wieder und sind beide dankbar für die Begegnung.

Herr A. ist schlank und mit seinen 86 Jahren noch recht fit. Doch heute wirkt er etwas gebrechlich. Er berichtet von einem Bandscheibenvorfall, den er vor zwei Monaten erlitten hat, die Behandlungen, die dieser nach sich zog und die Schmerzmittel, die er nehmen muss. Inzwischen geht es ihm wieder etwas besser. Das E-Bike, das er sich im letzten Jahr gekauft hat, kann er im Moment nicht nutzen. Das macht ihn etwas traurig.

Wir gehen langsam nebeneinander, beantworten uns gegenseitig Fragen, erzählen wie es uns in dieser Zeit so geht, sprechen über unsere Familien. Herr A. stellt plötzlich überrascht fest, wie weit er schon gelaufen ist. Weiter als bis zu diesem Busch, an dem wir in diesem Moment stehen, hat er es nach seiner Erkrankung noch nicht geschafft. Und er erzählt mir von dem Ziel, das er schon seit Wochen hat: Er möchte bis zum Ende dieser Straße gehen, bis zu einer Schranke, die diese von einem Waldweg trennt.

Herr A. sagt, ich müsse nicht mit ihm und so langsam gehen. Ich möchte ihn jedoch gerne begleiten und er bedankt sich dafür. Schließlich kommen wir tatsächlich an der Schranke an. Zufrieden lehnt er sich dort an, um etwas auszuruhen. Bei unserem Gespräch hat er seine Schmerzen vollkommen vergessen und er hat es tatsächlich geschafft.

Herr A. hat ein großes Herz, das er auch auf seiner Zunge trägt. Seine Worte strahlen viel Dankbarkeit, Wertschätzung und Wohlwollen aus. Er ist glücklich, dass er sich in seinem Alter in der Natur frei bewegen kann. Wenn er eines Tages gehen muss, dürfe das gerne hier in der Natur sein. Hier, wo er sich so wohlfühlt. Bei diesen Worten stehen ihm Tränen in den Augen. Es sind Tränen einer tiefen Weisheit und voller Glückseligkeit.

Seine Worte berühren mich sehr. Herr A. ist 30 Jahre älter als ich und ein wahres Vorbild, ein Lehrer für mich und mein Leben. Das sage ich ihm. Wir verabschieden uns voneinander und werden uns bald wiedersehen.

Mein weiterer Weg führt mich erneut durch Waldstücke, die durch den Sturm einigen Schaden genommen haben. In der Ferne höre ich den Lärm von Motorsägen. Die Geräusche kommen aus der Richtung, in die ich unterwegs bin. Ungefähr einen Kilometer weiter sehe ich die Arbeiter und große Haufen mit Baumstämmen und Schnittgut, die am Wegesrand aufgeschichtet liegen. Hier standen bis vor Kurzem noch größere Bäume und dichte Wildhecken. Davon ist nun nicht mehr viel zu sehen. Nur ein sehr schmaler Streifen des Gehölzes ist stehen geblieben. Sonst nur noch Baumstümpfe und eine kahle Fläche.

Ich habe wenig Verständnis für diese “Aktion”. In diesem Gebiet gibt es viele landwirtschaftliche Flächen und einige Industriehallen. Gerade hier sind Bäume und Wildhecken für Vögel, Insekten und andere Tiere ein wertvoller Schutzraum und Nahrungsquelle.

Ich besänftige meine Wut, mache mit dem Handy ein paar Fotos und nehme mir vor, mit den Arbeitern darüber zu sprechen. Einen der Männer, der ungefähr in meinem Alter ist, frage ich nach ihrem Auftraggeber. Er gibt an, dass die Arbeiten im Auftrag der Avacon erfolgen, diese dem Schutz der Hochspannungsleitungen dienen und fast abgeschlossen sind. Er kann allerdings nicht beantworten, warum großflächig fast alle Bäume und Sträucher entfernt wurden, obwohl dort gar keine Leitungen verlaufen.

Ich mache mich auf den Heimweg. Kaum bin ich zuhause angekommen, setze ich mich an meinen Laptop und schreibe eine Mail, die ich an die Naturschutzbehörde beim Landkreis und die Stadt adressiere. Darin schildere ich meine Beobachtungen und bitte die Behörden um eine Klärung, ob die Arbeiten im Vorfeld abgestimmt waren und sie mit den Bestimmungen des Naturschutzes und der Baumschutzsatzung der Stadt vereinbar sind.

Wie ich eingangs kurz angedeutet habe, gestalten wir eine Wiese um, die zu unserem Grundstück gehört. Hier pflanzen wir Bäume, Sträucher und Hecken für einen Waldgarten. Das steht in einem krassen Gegensatz zu dem, was ich heute gesehen habe. Ich kann das Geschehene und die Abholzung nicht mehr rückgängig machen. Allerdings kann ich die Verantwortung im Sinne der Natur übernehmen, um solche Aktionen vielleicht in Zukunft zu verhindern. Und ich bleibe dran!

Der Spaziergang hat mir wieder mal gezeigt, warum ich hier bin und welche Aufgabe ich habe. Ich bin zutiefst dankbar für alles, was ich erfahren durfte. Mir wurde gezeigt, welch unbändige Kraft die Natur entfaltet, wie wichtig ein achtsamer Umgang mit ihr und wohlwollende, friedvolle Gespräche mit Menschen sind. Es ist wie ein Spaziergang meines Lebens.

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