
Wie Höhlenmalereien zeigen, was uns Menschen ausmacht
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Draußen ist es eisig. Weite Teile der Nordhalbkugel sind von riesigen Gletschern bedeckt. Eis und Schnee, wohin das Auge reicht. Tag für Tag ein neuer Kampf ums Überleben.
So, oder so ähnlich, muss man sich das Leben unserer Vorfahren während der letzten Eiszeit vor etwa zwanzigtausend Jahren im heutigen Frankreich vorstellen. All diesen Strapazen zum Trotz erschufen unsere Ahnen grandiose Kunstwerke.
Einige der eindrucksvollsten Malereien dieser Zeit finden wir heute in den Höhlen von Lascaux in Frankreich. Dem großen Künstler Pablo Picasso wurde einst die Ehre zuteil, die originalen Malereien in den sonst verschlossenen Höhlen zu betrachten. Tief beeindruckt sagte er später: „In 20.000 Jahren haben wir nichts Neues gelernt.“
Große Kunst zu erschaffen fordert große Hingabe.
Jeder ungeübte Künstler weiß, wie schwierig es ist, ein einfaches Tier halbwegs realistisch zu zeichnen. Neben den vielen Übungsstunden kommt der Aufwand für die Kunstwerke selbst. Wahrscheinlich haben die Künstler von Lascaux Tage und Wochen in einer stickigen, dunklen und eiskalten Höhle verbracht, um ihre Werke zu erschaffen.
Warum nahmen unsere Vorfahren diese Anstrengungen unter den lebensfeindlichen Bedingungen der letzten Eiszeit auf sich?
Was trieb sie an?
Die aus meiner Sicht beste Antwort darauf lautet: Die ewige menschliche Suche nach dem großen Warum – dem Sinn des Lebens und dem Ursprung allen Seins.
Wir Menschen sind mit einem einzigartigen Verstand gesegnet. Wir können losgelöst von dem Moment, in dem wir leben, denken und unsere geistigen Fähigkeiten nutzen, um Probleme zu lösen, die uns gerade nicht unmittelbar betreffen. Wir sind in der Lage, Ziele in der Zukunft festzulegen und auf sie hinzuarbeiten.
Wir können Zusammenhänge erkennen und abstrakt denken.
Nehmen wir beispielsweise an, ein Eiszeitmensch, der Feuer nicht kennt, beobachtet, wie ein Blitz einen Baum in Brand setzt. Von furchtloser Neugier getrieben eilt er zu dem Baum, um die wundersam lodernden Flammen zu betrachten. Als er dem Baum näher kommt, bemerkt er die wohltuende Wärme, die von dem Feuer ausgeht. Doch leider hat er keine Möglichkeit, diese mysteriöse, wärmende Kraft zu kontrollieren und für sich und seine Gemeinschaft nutzbar zu machen.
Nach einiger Zeit des Staunens macht er sich auf den Rückweg zu seinem Stamm. Seine Brüder würden bald von der Jagd kommen, und es war seine Aufgabe, steinerne Klingen vorzubereiten, um die Beute weiterzuverarbeiten. Heute ist er später dran als üblich und muss die Klingen heute in der Abenddämmerung schlagen. Glücklicherweise findet er schnell zwei passende Steine, um den einen mit dem anderen zu bearbeiten.
Da er im abendlichen Zwielicht gerade noch genug sehen kann, um zu arbeiten, macht er sich sofort ans Werk und beeilt sich besonders. Schlag auf Schlag formt er mit Hilfe des einen Steins eine scharfe Kante am zweiten Stein. Fieberhaft ins schnelle Hämmern vertieft, den Blick auf die in der Dunkelheit gerade noch erkennbare Klinge fokussiert, bemerkt er auf einmal ein kleines, helles Blitzen genau an jenem Punkt, an dem er die beiden Steine aufeinanderschlägt.
Da fällt es ihm ein! Das Blitzen ist ja so ähnlich wie der Blitz, den er gesehen hat, der den Baum angezündet hat!
So, oder so ähnlich, könnte sich die Entdeckung des Feuers abgespielt haben.
Unser namenloser Eiszeitheld hat hier durch eine schicksalhafte Fügung das Potenzial von Feuer erlebt und dadurch das Verlangen oder Ziel entwickelt, dieses Potenzial nutzbar zu machen. Durch die Fähigkeit, abstrakt zu denken, konnte er später erkennen, dass der Blitz aus dem Himmel und das Blitzen der Steine etwas gemeinsam haben. Abstrakt gesehen sind sie sich also ähnlich – beide blitzen.
Warum sollten dann nicht auch beide einen Baum anzünden können?
Damit war der erste Schritt zur Erfindung von Feuersteinen gemeistert. Ermöglicht durch unsere einzigartigen geistigen Fähigkeiten.
Doch diese Fähigkeiten haben ihren Preis.
Als Problemlösewerkzeug ist unser Verstand dazu verdammt, unablässig nach dem nächsten Warum zu fragen. Das Streben nach mehr und mehr Erkenntnis ist ein Grundbedürfnis von uns Menschen, und wie jedes unerfüllte Bedürfnis ist jedes offene „Warum“ für uns schmerzhaft. So gelangen wir irgendwann unweigerlich zu den großen „Warums“, auf die es nicht mehr unbedingt eine offensichtliche Antwort gibt. „Warum bin ich hier?“ oder „Warum gibt es das Universum?“
Ohne Antworten auf diese Fragen leiden wir. So sind wir geschaffen. Wir suchen Antworten. Also lösen wir auch dieses Problem, indem wir Antworten finden, die auf dem beruhen, was wir sehen.
So beobachteten unsere eiszeitlichen Vorfahren zum Beispiel das Wunder der Geburt eines Kindes. Aus dem Schatten einer mysteriösen, anderen Welt, so schien es, wird ein neues Leben in den Bauch der Mutter beschworen und schließlich in das Licht der Welt geboren. Am Ende seines Lebens verschwindet dieses Wesen dann scheinbar wieder zurück in die Welt, aus der es kam. Ähnliches beobachten die Eiszeitmenschen bei den Tieren, auf deren Jagd sie angewiesen sind. Auch sie scheinen aus einer anderen, mysteriösen Welt in unsere hineingeboren zu werden und sie wieder zu verlassen.
Die Geister jener Tiere, die unsere Vorfahren in die ewigen Jagdgründe schickten, sollten in den Höhlen von Lascaux womöglich durch rituelle Zeremonien besänftigt werden, um zukünftige Jagderfolge sicherzustellen. Würden die Geister der Tiere sich entscheiden, nicht wieder in diese Welt zu kommen, hätte das schließlich große Folgen für die Jäger und Sammler jener Zeit.
Da sowohl Menschen als auch viele Tiere durch eine Art “Höhle” im Mutterleib in unsere Welt übertreten, ist es nicht so abwegig auf den Gedanken zu kommen, dass Höhlen der beste Ort sind, um sich dieser mysteriösen, anderen Welt zu nähern und mit ihr in Kontakt zu treten.
Warum haben die Menschen der Eiszeit also einen solch großen Aufwand für die Erschaffung von Höhlenmalereien betrieben?
Sehr wahrscheinlich, um das endlose menschliche Verlangen nach tieferen und tieferen Antworten zu befriedigen. Die Höhlenmalereien waren wohl Teil spiritueller Zeremonien, die das Weltbild und den Glauben der damaligen Menschen verbreiteten und festigten.
Dafür gibt es noch weitere Hinweise. So wurden die Malereien nicht an zufälligen Orten innerhalb der Höhle platziert, sondern an jenen mit besonders guter Akustik. Zudem wurden Instrumente in den Höhlen gefunden. Das deutet stark auf die Ausübung von gemeinschaftlichen Aktivitäten in diesen Stätten hin.
Die Höhlen von Lascaux zeigen uns, dass Menschen vor zwanzigtausend Jahren schon Antworten auf dieselben existenziellen Fragen suchten, die uns heute noch immer beschäftigen.
Damals haben unsere Urahnen schon größte Anstrengungen unternommen, um ihr Verlangen nach Sinn, also ihr Verlangen nach einem Ziel als Antwort auf existenzielle Fragen, zu stillen. Die Höhlenmalereien in Lascaux zeigen, dass die Essenz des menschlichen Lebens ein ideologischer Fluss ist, welcher für unseren unablässig bohrenden Verstand ein unzerstörbares Ziel anbieten muss, um beständigen, inneren Frieden erreichbar zu machen.
Und damals wie heute ist das einzig wahrlich unveränderliche Wesen das allerhöchste Bewusstsein. Ob unsere Vorfahren es bereits verstanden oder nicht, die fundamentale Kraft hinter ihren künstlerischen Leistungen war die Suche nach reinem, unveränderlichem Bewusstsein – dem allerhöchsten Bewusstsein.
Uns diesem allerhöchsten Bewusstsein zu nähern ist die letztendliche Bestrebung all unseres Seins. Es definiert unser Menschsein und unsere Menschlichkeit.
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