Die Anarchistin unter den Grünen
Von Dr. Kristin Peters
Die Mistel, genauer die Weißbeerige Mistel, gehört zu den ungewöhnlichsten Pflanzen unserer Breitengrade.
Ist sie eine „Anarchistin“, im Sinne von einem Leben ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, dafür selbstbestimmt?
Zunächst einmal ist sie ein Strauch, der 50 bis 100 cm hoch wird und nestartig wachsende, ledrig, gelbgrüne Blätter und Sprosse bildet und damit auf Bäumen aufsitzt. Sie wächst also nicht auf der Erde, sondern „wurzelt“ in den Sprossachsen von Wirtsbäumen. Damit beginnen schon die Besonderheiten.
Alle Pflanzen sind an physikalische und klimatische Regeln oder Gesetze gebunden.
Die Mistel entzieht sich den angeblichen Notwendigkeiten und scheint, nach ihren eigenen Grundsätzen zu leben.
Beispielsweise richtet sich ihr Wachstum nicht an der Erdanziehung aus. Sie kennen das: wenn sie einen bewachsenen Blumentopf hinlegen, streben die Triebe der Pflanze wieder in Richtung Sonne und die Wurzeln wachsen wieder in Richtung Erde. Die Mistel dagegen wächst immer kugelig, ohne sich nach der Erdanziehung oder der Sonne ausrichten zu müssen.
Wenn die anderen Pflanzen in der Winterpause sind, blüht und fruchtet die Mistel. Je nach Witterung bilden sich ihre Blüten in Mitteleuropa von Mitte Januar bis Anfang April. Dann nimmt sie sich recht viel Zeit, rundherum 9 Monate, bis sie in der Adventszeit perlenartige, weiße Früchte hervorbringt.
Des Weiteren bildet die gelbgrüne Rinde der Sprosse keine Korkschicht oder keine Borke, so dass ihre Zweige ihr Leben lang Photosynthese wie die Blätter betreiben können. Ihre Blätter entwickeln sich dabei nie über das Stadium des Keimblattes hinaus. Sie formt auch keine echten Wurzeln, sondern sogenannte grüne Rindenwurzeln. Schließlich ist sie eine immergrüne Pflanze, kann jedoch nicht welken.
Schon unsere sehr frühen Vorfahren erkannten die Außergewöhnlichkeit der Mistel. Sie nutzten sie als Heil- und Schutzpflanze und sprachen sie heilig. Der Mistelkult stammt bereits von den jungsteinzeitlichen und megalithischen Kulturen unseres Halbkontinents und wurde von den Kelten übernommen und weiter getragen. Ein Brauch, der in etwa heute noch zelebriert wird, ist der Mistelzweig über der Türschwelle zur Weihnachtszeit. Wer sich unter der Mistel befindet, ist – wie sie selbst – frei von allen gesellschaftlichen Konventionen. Deshalb darf sogar geküsst werden, außerhalb der eingegangenen Partnerschaft!
Die Mistel symbolisierte die Nahtstelle zwischen Leben und Tod sowie das Tor zwischen der einen und der anderen Jahreshälfte und wurde dazu bei den Sonnenwendfeiern eingesetzt. Sie ist selbst weder Baum noch Kraut und hilft, als „Zwischending“, als „Anarchistin“ Einschränkungen und Fesseln hinter sich zu lassen. Mit ihr könnten sogar magische oder visionäre Reisen bestanden werden. Dort, wo sie aufgehängt wird, schützt sie den Zwischenraum, an dem alles möglich, aber nichts fixiert ist.
Mit ihrer Fähigkeit, nach ihren eigenen Regeln zu leben, und einen Ort zu unterstützen, der Freiräume nicht nur zulässt sondern geradezu fordert, empfiehlt sie sich als Schutz-und Heilpflanze für die querdenkenden Menschen und ihre Rückzugs- und Schaffensorte. Aufgehängt, geräuchert, eingenommen1, ausgelegt oder bei sich getragen, begünstigt ihr Wesen, sich Druck, Spannung und Manipulation zu entziehen und Momente der Stille und Schwerelosigkeit zu finden.
Sie beruhigt hitzige Gemüter und ist deshalb auch eines der heilsamsten Mittel bei Bluthochdruck. Sie lindert Ängste und Albträume. Als Fruchtbarkeitsbringerin kann sie vielleicht sogar die Vermehrung von demokratischen Ideen und Projekten beschleunigen.
Allerdings ist sie vollkommen auf andere Pflanzen und Vögel angewiesen, in ihrer halbparasitischen Lebensweise und in der Vermehrung.
Keimt eine Mistelbeere auf einem Wirtsbaum entwickelt sich im Laufe der Zeit ein Saugfortsatz oder Haustorium durch die Rinde des Wirtsastes hindurch. In den Saftbahnen der lebenden Rinde breitet sich die junge Mistel dann langsam in Form grüner Rindensaugstränge aus und entzieht damit dem Baum Wasser und Nährsalze. Kohlenhydrate bildet sie jedoch mittels Photosynthese selbst.
Die Samen werden von Vögeln, wie der Mistel-Drossel, Mönchsgrasmücke und gelegentlich dem Seidenschwanz, verbreitet. Sie kann sich nicht selbst aussäen und die Samen keimen weder im Wasser noch in der Erde. Aufgrund des Schleims in den Mistelbeeren werden die Samen durch die Vögel unverdaut ausgeschieden und bestenfalls auf einem Ast abgelegt. Dadurch erhalten sie die Keimbedingungen und der Kot wirkt zusätzlich als Kompost.
Der fehlende, ganzheitliche Blick in der Wissenschaft sorgte dafür, dass die Mistel vorrangig als Schmarotzer gesehen wird, so wie auch gern die querdenkenden Menschen als solche einfachhalber einsortiert werden. „Sich nicht an die Regeln halten, machen, was sie wollen, aber nehmen, was sie bekommen können.“
Wer jedoch genauer beobachtet, erkennt bald, dass die Mistel immer nur abwehrschwache Wirte befällt. Oftmals wachsen diese Bäume auf ungünstigen Standorten, leiden bereits, sind „verkrebst“ oder alt.
Die Mistel hilft krankmachende Einflüsse, Strahlung oder Nährstoffe zu neutralisieren. Weitere Vorteile für das Ökosystem oder direkt für die befallene Pflanzen wurden bisher nicht untersucht. Zu schnell wird das Urteil „Schmarotzer“ bzw. „Halbschmarotzer“ gefällt und daran festgehalten, nicht nur bei der Mistel.
Im Natürlichen wie im Menschlichen besteht ein großer Wunsch den Parasiten und Schmarotzern rasch den Garaus zu machen. „Abschneiden den wilden Zopf!“. Fertig.
Bekannterweise hat das noch nie gut funktioniert. Wie so oft in unserer modernen Welt, wird nicht das Ökosystem betrachtet, der Zustand des Baumes analysiert, sondern versucht, einfach das „Problem“ zu beseitigen. Das emanzipierte Mistelwesen hat vorgesorgt. Denn aus den Saugsträngen erwachsen mit der Zeit sogenannte Senkerwurzeln, die bis in das Leitungsgewebe des Wirts vordringen und von dort aus in der Lage sind, neue Senker sowie Rindenwurzeln auszubilden.
Kurz gesagt, wird an einer Stelle die sich bildende Mistel abgeschnitten, wird sie an einer anderen Stelle wieder hervortreten.
Schließlich wurde bei der Mistel sogar ein „Schläfer-Zustand“ beobachtet. Nämlich nach Einnistung der Samen in lebender Rinde kann ein frühes Entwicklungsstadium auch einige Jahre kaum sichtbar überdauern. Sie greift demnach erst ein, wenn die Bedingungen es erfordern oder wenn, ihre Möglichkeiten beschränkt werden.
Um so unmenschlicher eine Gesellschaft agiert, um so kranker und „verkrebster“ sie ist, desto mehr Hilfe wird lebenswichtig.
Sich sorgende, wissende oder anklagende Menschen nicht hören zu wollen, sie zu verunglimpfen und alle Möglichkeiten des demokratischen Mitbestimmens abzuschaffen, kann keine Lösung sein.
Die „Entgifter*innen“ schlafen jetzt nicht. Sie sind vernetzt in der ganzen Gesellschaft und werden immer wieder auftauchen und Alternativen aufzeigen, weil es gegenwärtig unerlässlich ist.
Die Naturheilkunde, insbesondere Rudolf Steiner und Mitarbeiter*innen, konnten den Einsatz der Mistel zur Heilung wiederbeleben.
Interessanterweise enthält sie u.a. Lektine und Viskotoxine, die den Zellstoffwechsel positiv beeinflussen, die Thymusdrüse stimulieren, die Abwehr beim Menschen aktivieren und die Reparaturmechanismen zerstörter DNS fördern. Es konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass das Wachstum von Tumorzellen und die Gefahr der Metastasierung durch ihren Einsatz vermindert wird. Sie lässt sich außerdem zur Abwehrsteigerung bei sogenannten Virusleiden kurativ einsetzen, so wie bei vielen weiteren Erkrankungen mehr.
Mit dem Wissen, dass die Mistel den befallen Bäumen und obendrein dem Menschen hilft, hält es sich vielleicht besser aus, als Schmarotzer betrachtet zu werden.
1: Wer einen Tee nutzen möchte, bitte beachten, immer einen Kaltansatz anwenden, damit die „giftigen“ Viscotoxine nicht in Lösung gehen.