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Während einer sommerlichen Reise in die Türkei verbrachte ich vor kurzen einige Zeit mit einem besonders Philosophie begeisterten Norweger zusammen auf einer Ökofarm, etwa zwei Stunden außerhalb von Istanbul.

Ob während der Gartenarbeit, dem gemeinsamen Kochen, beim sauber machen oder auch während gemeinsamer Ausflüge liebte Sven* es, über die großen Fragen dieser Welt zu diskutieren. Neben Nietzsche fand er besonders viel Gefallen daran, die Natur der Mathematik zu erörtern.

Wird Mathematik entdeckt, so wie ein neuer Kontinent, eine chemische Reaktion oder eine neue Tierart entdeckt wird. Oder wird sie erfunden, wie Computer, Autos oder Uhren erfunden werden? Anders ausgedrückt: Existiert Mathematik auch ohne den Menschen?

Der Gedanke kann einem schnell aufkommen, finden sich doch von den kleinsten, subatomaren Dimensionen bis hin zu intergalaktischen Größenordnungen immer wieder Objekte, Systeme und Strukturen, die mathematischer Perfektion zu folgen scheinen.

Elektronen bewegen sich auf symmetrische Weise um ihre Atomkerne, Schneckenhäuser folgen der sog. Fibonacci Folge und unsere Galaxie, die Milchstraße bildet mit ihren Armen eine harmonisch wirkende und mathematisch gut beschreibbare Form.

Die Natur scheint also auf allen Größenordnungen und in vielen Bereichen mathematischen Prinzipien zu folgen. Daraus aber abzuleiten, Mathematik sei ein fundamentaler, vom Menschen unabhängiger Bestandteil der Natur, ist falsch.

In ihrem Kern ist Mathematik eine Sprache. Wie jede Sprache, verwendet sie Symbole, die bestimmte Phänomene beschreiben. In den meisten Sprachen sind diese Symbole Wörter. „Vogel“ zum Beispiel. Ein zweisilbiger Klang, zwei Laute also, die etwas recht Eindeutiges aus unserer Umwelt beschreiben.

Darüber hinaus bestehen Sprachen aus Regeln, die die Symbole – also die Wörter – kategorisieren (in Substantive, Verben, Adjektive, Pronomen, etc.) sowie aus Regeln, die vorgeben, wie Symbole verschiedener Kategorien zu komplexeren Bedeutungen miteinander verbunden werden können. Diese Regeln nennen wir Grammatik.

Die Mathematik funktioniert ganz ähnlich, nur weniger intuitiv. Sie ist eine Sprache, die darauf ausgelegt ist, hauptsächlich zahlenbasierte Sachverhalte besonders effizient auszudrücken und nach den Gesetzen der Logik miteinander zu verbinden, um komplexere Bedeutungen auszudrücken.

In der Mathematik gibt es Symbole, wie beispielsweise das bei Schülern oft besonders beliebte „x“. Diese Symbole stehen – anders als viele Wörter – nun meist nicht für etwas Konkretes wie einen Vogel, sondern stellvertretend für eine Zahl.

Welche Zahlen das “x” repräsentiert, hängt dabei von den gegebenen Umständen ab. Will man eine Formel aufstellen, um die jährlichen Kosten für das eigene Auto zu bestimmen, kann “x” die in einem Jahr gefahrenen Kilometer repräsentieren. “x” wird dann für die allermeisten Menschen im Bereich von 0 km (das Auto wird nicht gefahren) bis vielleicht 200.000 km liegen.

Liegt der Preis für einen Kilometer nun bei 10 Cent oder 0,1 € kann man folgende Formel aufschreiben:

Gesamtkosten = x * 0,1€

Hier zeigt sich der Vorteil, den man durch den Wechsel der verwendeten Sprache hin zur Mathematik erhält. Obige Gleichung liefert sehr viele Aussagen auf einen sehr kleinen und – sofern man ausreichend Mathe “spricht” – sehr schnell verständlichen Raum.

Diese eine Gleichung sagt gleichzeitig:

“10 km zu fahren verursacht Gesamtkosten von 1 € pro Jahr”
“5000 km zu fahren verursacht Gesamtkosten von 500 € pro Jahr”
“100.000 km zu fahren verursacht Gesamtkosten von 10.000 € pro Jahr”
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U.v.m

Mathematik ermöglicht es unter bestimmten Voraussetzungen (hauptsächlich bei zahlenbasierten Aussagen) sehr effizient und schnell zu kommunizieren.

Dieser Vorteil hat jedoch auch seinen Preis. Für Aussagen, die nur schwer oder gar nicht mithilfe von Zahlen ausgedrückt werden können, ist Mathematik ineffizient und ungeeignet.

Mathematik ist in ihrem Kern eine Sprache mit spezialisierten Eigenschaften, mit der man über bestimmte Themen sehr schnell und effizient Information austauschen und verarbeiten kann.

Sie bleibt in ihrem Kern jedoch eine Sprache, deren Bedeutung von denjenigen abhängt, die sie verstehen. Wo keine Menschen sind, ist auch keine Mathematik. Sie entstammt dem Menschen und existiert nicht von ihm unabhängig. Sie wird erfunden und nicht entdeckt. Aus meiner Sicht ist das eindeutig.

Mein neuer, norwegischer Freund war von dieser Erläuterung hingegen nicht überzeugt. Er verabschiedete sich mit dem Hinweis, er freue sich darauf, die Diskussion im nächsten Jahr fortzusetzen. Von mir aus könnten wir dann auch über etwas anderes reden.

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