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Von Indrajit Joachim Voigt

Du kannst tun, was immer du willst,
aber die Konsequenzen deiner Handlungen
musst du unweigerlich selbst tragen.

Shrii Shrii Anandamurti

Karma und Vererbung

Reinkarnation wird traditionell im Deutschen mit dem schönen Wort Seelenwanderung übersetzt.

Wenn wir Seele verstehen als unser innerstes Ich oder Selbst, jenseits des Alltagsbewusstseins, dann trifft dies wohl zu, doch die Seele trägt einen Rucksack, und der enthält ein dickes Bündel von Karma, das wir mitnehmen in unsere neue Inkarnation.

Dieses Karma ist es, das unseren Charakter bereits im frühesten Kindesalter prägt und formt. Es ist das, was unsere Individualität ausmacht. So findet tatsächlich eine Art von Vererbung statt.

Karma ist die Gesamtheit der potentiellen Reaktionen auf vergangene Taten und die entscheidende Kraft für die Bedingungen der nächsten Wiedergeburt. Es ist eine Art geistiges Kraftfeld, das in den tieferen Geistesschichten den Tod des Körpers überdauert um sich in der befruchteten Eizelle im Moment der Zeugung erneut zu manifestieren.

Erinnerungen an frühere Leben

Dies ist nicht der Platz, um alle Aspekte und Implikationen dieser Theorie ausführlich zu behandeln. Ich beschränke mich hier auf die Bedeutung von Wiedergeburt im Rahmen des ewigen Schöpfungszyklus nach der tantrischen Lehre und hoffe, den einen oder anderen interessanten Aspekt zu bestehendem Wissen über Reinkarnation beisteuern zu können.

Es gibt tausende dokumentierter Berichte über Menschen, meist Kinder bis zum Alter von 6 Jahren, die deutliche, detaillierte Erinnerungen an frühere Leben haben. Einige solcher Berichte wurden auch wissenschaftlich begleitet und liefern eine mögliche Erklärung für Phänomene wie das Auftretenbesonderer Begabungen schon im frühen Kindesalter (“Wunderkinder”).

 

 

Bei Erwachsenen werden solche Erinnerungen nur ausnahmsweise, bruchstückhaft in Träumen oder in Therapie- und Hypnosesitzungen wach. Sie werden eben nicht in unserm bewussten Geist gespeichert und selbstverständlich nicht im Gehirn.

Laut Anandamurti ist es für die psychische Gesundheit eines Menschen von großer Bedeutung, dass die Erinnerungen an frühere Leben nach deren Auftreten bis zum 6. Lebensjahr vollständig erlöschen.

 

Karma (Samskaras) in Kürze

Der Sanskrit-Begriff “Karma” bedeutet an sich nur so viel wie Handlung. Anandamurti verwendet den präziseren Begriff samskara(s), der das Aktionspotential meint, das sich aus einer spezifischen Handlung ergibt.

Jede Handlung, sei es eine physisch ausgeführte oder auch nur eine gedankliche (Wünsche, Absichten etc.), zeitigt eine Gegenreaktion (samskara). Kommt diese nicht sofort zur Wirkung, bleibt sie als (Re-)Aktionspotential im Geist des handelnden Individuums zurück und zieht nachfolgend Situationen an, in denen die Reaktion zum Zuge kommen kann.

 

Diese Gesetzmäßigkeit entspricht dem sog. Wechselwirkungsprinzip in der Physik: übt ein Körper auf einen anderen eine Kraft aus, so erzeugt dies eine Gegenkraft seitens des zweiten Körpers.

So besitzt Geist eine innewohnende Tendenz, den durch die Aktion entstandenen Druck wieder auszugleichen, d.h. in einen ausgeglichenen Zustand zurückzukehren. Der Stein, den Sisiphos den Berg hinauf rollen musste, hatte eben zu seinem großen Leidwesen den unwiderstehlichen Drang, wieder hinab zu rollen.

Menschen auf der Evolutionsleiter

So wie die Kräfte von Anziehung und Abstoßung in jedem Atom wirken, so entfalten auch samskara(s) eine innere Dynamik, die das Leben weitgehend prägt. Da sich jedoch Reaktionen auf Taten oft nicht sofort einstellen, baut sich im Laufe des Lebens ein größeres Reaktionspotential auf.

Nach der Brahmachakra-Theorie werden diese potentiellen Handlungsreaktionen in tieferen Geistschichten über den Tod hinaus gespeichert.

Angetrieben vom psychischen Kraftfeld der samskara(s) sucht der (im Tod körperlose) Geist einen neuen Körper, um diese innere Dynamik zum Ausdruck bringen zu können.

Auf diese Weise kann – wie bei der genetischen Vererbung die Entwicklung der Arten – die Höherentwicklung des individuellen Geistes über viele Inkarnationen hinweg stattfinden, denn eine einzelne Lebensspanne reicht bei weitem nicht aus, um die Instinkte und Erfahrungen aus dem Tierreich in die überwältigende Realisierung unendlichen Bewusstseins zu transformieren. Zumal es auch gern mal in die umgekehrte Richtung gehen kann…

 

Vor oder zurück?

Der egostarke, intelligente und entscheidungsfähige homo sapiens – Adam biss in den “Apfel der Erkenntnis” – hat unbegrenzte Handlungsoptionen und nicht immer trifft er richtige Entscheidungen.

“Richtig” ist in diesem Zusammenhang alles, was Menschen innerlich für feinere Bewusstseinsschwingungen öffnet – was den Geist ausdehnt; “falsch” ist das, was Extrovertiertheit und die Gier nach begrenzten materiellen Objekten fördert und dadurch den inneren Horizont kontrahiert.

Gier und Verhaftung entstehen, wenn der Hunger, die Sehnsucht des Geistes nach Weite und Freiheit auf kleine Objekte gelenkt wird, da er hier nie dauerhaft befriedigt werden kann und schnell zu Egoismus, Rücksichtslosigkeit und jede Art von Verbrechen verkommen kann.

Wünsche und Gedanken allein können je nach Intensität und Dauer auch ein Reaktionspotential schaffen, doch die realen Handlungen, die aus Gier erwachsen, sind um ein Vielfaches schlimmer. Dann kann die Weiterreise in die nächste Inkarnation auch ein Rückschritt im Evolutionsprozess sein und die Wiedergeburt erfolgt in einem Umfeld, in dem die erzeugten leidvollen Reaktionen erfahren werden können.

Nach der Tantralehre kann dies auch in niedriger entwickelten Lebensformen geschehen. So schaffen Menschen sich ihr sog. Schicksal selbst.

 

Komplexe Zusammenhänge

So weit die Theorie, die mir durchaus einleuchtend erscheint. Doch in der Praxis ergeben sich viele Fragen. Das fein gesponnene Netz von Beeinflussungen und Prägungen, denen Menschen Zeit ihres Lebens ausgesetzt sind, erzeugt völlig neue, auch karmisch bedeutsame Dynamiken.

Familiäre und soziale Einflüsse, Bildungs- und Medieninhalte bis hin zu politischer Propaganda hinterlassen ihre Spuren in der Psyche; Prägungen, die letztlich auch in Taten und Reaktionen münden.

Anandamurti unterscheidet zwischen mehreren Arten von samskaras:

  • durch eigenes Handeln erworben
  • aus früheren Leben angeboren
  • durch soziale Bedingungen auferlegt

Er beschreibt einige der karmischen Gesetzmäßigkeiten wie folgt:

Aufrechnung unmöglich Gutes Karma (natürlich gibt es auch das – die Reaktion auf gute Taten!) kann nicht gegen schlechtes Karma angerechnet werden. Bist du durch unlautere Praktiken zu viel Geld gelangt, so schützt eine noble Spende dich nicht vor der Reaktion. Du musst beide Reaktionen (immerhin auch die angenehme) einzeln durchleben.
Abstottern gestattet Karma kann auch “in Raten” abgetragen werden, also etwa ein schwerer Unfall in Form vieler kleiner Unfälle.
Auferlegtes Karma Ist eine Nation in einen Krieg verwickelt, bei dem Millionen in Tod und Elend gestürzt werden, so ist das mit individuellen Samskaras nicht zu erklären. Die Individuen erleben so das kollektive Karma ihrer Gesellschaft als auferlegte Samskaras, die sie durch die Geburt als Einwohner dieses Landes in Kauf genommen haben. Dazu mehr weiter unten.

Verantwortung, nicht Fatalismus

Der Vorwurf an die Verfechter der Karmalehre lautet häufig, sie führe zu Fatalismus, wenn etwa gesagt wird: “Du hast dein miserables Schicksal verdient, also leide weiter!”

In der Tat, diese Interpretation diente in der indischen Geschichte leider oft ausbeuterischen Zwecken. Aber wer kennt schon das jeweilige Karma und könnte mit Fug und Recht behaupten, das Karma bestünde darin zu leiden und nicht etwa darin sich aus dem Leiden zu befreien?

Eine andere Schlussfolgerung erscheint da viel naheliegender: “Überlege dir gut, was du tust, denn die Reaktion wird dich in jedem Fall ereilen!”

 

Kollektives Karma

Da Umwelt und Gesellschaft das Leben massiv beeinflussen, müsste auch die Rolle des kollektiven (auferlegten) Karmas genauer untersucht werden, was diesen Rahmen jedoch sprengen würde. Eine Überlegung möchte ich hier dennoch kurz anbringen.

Wenn es stimmt, dass das Glück eines Menschen maßgeblich auch vom Aufstieg oder Niedergang der Gesellschaft, in der er lebt, abhängig ist, so ergibt sich daraus automatisch eine Verantwortung jedes Einzelnen für die Gemeinschaft.

Auf den Punkt gebracht: auch das tatenlose Zuschauen, wenn schlimme Dinge geschehen, hat karmische Konsequenzen, nehmen wir als Beispiel die grausame Massentierhaltung. Sich gegen Missstände und für das Gemeinwohl einzusetzen, lindert damit auch die eigene karmische Last.



“Im Tode gibt es nichts Schreckliches. Das, was schrecklich ist im Tode, hängt vom Leben ab.“
Leo Tolstoi

Sterben, Tod und Wiedergeburt

Zum Abschluss dieses Themas hier noch ein sehr menschlicher Aspekt, der uns alle betrifft: das Sterben. Schon zahllose Nahtodberichte lassen erahnen, dass der menschliche Geist ein Himmel des Lichts ist (oder besser: sein kann, denn es gibt tatsächlich auch einzelne Berichte von albtraumartigen Zuständen).

Im Kontext der Reinkarnationslehre und der Brahmachakra-Theorie erscheinen solche Erfahrungen vielleicht verständlicher. Wichtig ist die Erkenntnis: Der Tod ist nicht das Ende.

Spirituelle Sterbebegleitung (Musik, Mantrasingen) kann viel zu einem konfliktfreien Hinübergleiten im Sterbeprozess beitragen. So beschreibt das Tibetanische Totenbuch in einigem Detail Zeremonien, die idealerweise während des Ablebens zelebriert werden sollten.

Dem Moment des Sterbens wird im Tantra sehr hohe Bedeutung beigemessen für alles, was nach dem Tod mit dem Geist geschieht. Dieser wiederum ist das Ergebnis der mentalen Ausrichtung, die im Leben vorherrschend war. Deshalb ist eine spirituelle Ausrichtung des Lebens so wichtig, denn der “Film des Lebens” läuft im Moment des Sterbens wie im Schnelldurchlauf ab.

Mein Tipp: die innere Kraft durch Fokussierung und Meditation stärken, so lange es geht; das Leben verantwortungsvoll und achtsam gestalten. Dann ist das Sterben zwar eine aufregende, aber keine furchteinflößende Vorstellung mehr.

Niemand wandert im Tod in die Hölle oder in den Himmel. Nur das Leben selbst kann zur Hölle werden, aber wir können es ja auch zum Himmel machen. Im großen kosmischen Ganzen bleibt alles ewig in stetig neuen Formen erhalten. Und wie nach einem tiefen, traumlosen Schlaf folgt auch auf den Tod ein neues Erwachen.

 

Das ewige Rad

Im Leben entstehen laufend neue karmische Situationen – Karma wird einerseits abgebaut und im selben Moment neu erschaffen, ein schier unendliches Spiel. Buddha nannte es das ewige “Rad der Wiedergeburten” — und lehrte einen Ausweg aus dem Hamsterrad. Tantrismus spielte und spielt bis heute besonders im tibetischen Buddhismus eine zentrale Rolle. Moderne Lehrer wie Anandamurti beleben diese Tradition heute mit neuen Inhalten.

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