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Der Begriff Guru wird in der Öffentlichkeit oft falsch benutzt, wie z. B. bei der Bezeichnung Börsenguru. Was das Wort Guru bedeutet und wer ein Guru sein kann, beschreibt Shrii Shrii Anandamurti in diesem Diskurs.

Die Eigenschaften eines wahren Gurus

Vielleicht wisst ihr, dass das Wort Guru ein sehr altes vedisches Wort ist. Es bedeutet “jener, der die Dunkelheit beseitigt”.

Nun wird dieser Ausdruck “jener, der die Dunkelheit beseitigt” oft ohne tieferes Verständnis verwendet. Diese Dunkelheit gehört eigentlich nicht nur zur psychischen oder spirituellen Ebene, sondern zu allen Ebenen der menschlichen Existenz. Das heißt, die Dunkelheit herrscht in allen drei Ebenen – in der grobstofflichen physischen, in der psychischen und in der spirituellen Ebene.

 

Dunkelheit auf drei Ebenen beseitigen

Ein Guru muss also notwendigerweise in der Lage sein, die Dunkelheit auf allen drei Ebenen zu beseitigen.

Wenn er seinen Schülern das Alphabet oder andere akademische Dinge beibringt, wird er Lehrer genannt – Lehrer im akademischen Sinne. Das reicht nicht aus.

Wenn er wiederum die Dunkelheit in der psychischen Welt beseitigt, wenn er seinen Anhängern intellektuelles Wissen vermittelt, wird auch das nicht ausreichen.

Und wenn er schließlich die Dunkelheit nur aus der spirituellen Ebene seiner Schüler auflöst, reicht auch das nicht aus. Tatsache ist, dass ein Guru – wenn er als echter Guru akzeptiert werden soll – die Dunkelheit aus allen Ebenen der physischen Welt, aus allen Ebenen der psychischen Welt und auch aus allen Ebenen der spirituellen Welt beseitigen muss.

 

Spirituelles Wissen

Schauen wir uns nun die spirituelle Welt an. In der spirituellen Welt kann nur derjenige ein Guru sein, der die unterdrückte Menschheit auf eine hohe spirituelle Ebene heben kann, der die Menschheit mit spirituellem Licht erleuchten kann. Das heißt, nur ein Mahákaola hat die nötige Qualifikation, um ein Guru zu sein, andere können keine Gurus sein.

Um ein idealer Guru in der spirituellen Sphäre zu sein, muss man mit den kleinsten Details des Sádhaná [spiritueller Praxis] bestens vertraut sein, mit jedem Aspekt des Sádhaná, ob wichtig oder unwichtig.

Der Guru muss diese Dinge nicht nur lernen, sondern auch die Fähigkeit besitzen, diese Praktiken anderen zu lehren. Andernfalls sollte er nicht als Guru behandelt werden. Der Mahákaola allein hat diese Fähigkeit, niemand sonst.

Kaolas sind diejenigen, die durch Sádhaná ihre mikrokosmische Position erfolgreich erhöht und im Makrokosmos etabliert haben; aber ein Mahákaola ist jemand, der zwar ein Kaola ist, aber gleichzeitig die Fähigkeit besitzt, auch anderen zu helfen, diese erhabene Kaola-Position zu erreichen. In der Vergangenheit war Lord Shiva ein solcher Mahákaola. Lord Krśńa war ein anderer. Um ein Guru zu sein, muss man ein Mahákaola sein.

Man muss Wissen über Sádhaná besitzen, nicht nur gründliches Wissen über die Shástras [Schriften]. Und um gründliches Wissen über die Schriften zu erlangen, muss man so viele wichtige Sprachen beherrschen, wie für diesen Zweck notwendig sind. Das heißt, es reicht nicht aus, dass ein Guru die notwendigen Qualifikationen erwirbt, um Sádhaná zu lehren (d.h. Lektionen über die Praxis zu erteilen), er muss auch über angemessene theoretische Kenntnisse verfügen. Das heißt, um das innere Geheimnis von Sádhaná zu kennen, muß er gründliches und authentisches Wissen über die Schriften besitzen; nur dann sollte er als vollkommener Guru im spirituellen Bereich akzeptiert werden.

Jemand, der ein recht gutes Wissen über Sádhaná hat und auch anderen in diesem Bereich helfen kann, dem aber der Intellekt oder die Kenntnis von Sprachen und Schriften völlig fehlt, kann kein vollkommen kompetenter Guru im spirituellen Bereich sein; denn als Guru wird er auch die theoretische Seite erklären müssen. Wenn ich zu jemandem sage: “Tu dies”, sollte ich auch erklären, warum er oder sie das tun sollte, und gleichzeitig sollte ich in der Lage sein, es im Licht der Shástras zu unterstützen.

 

Bedeutung von Schriften

Ihr könnt die Frage stellen: “Was ist eine Shástra?” Ihr könntet auf ein voluminöses Buch zeigen und es als Shástra bezeichnen, aber das wäre irreführend.

Shástra im eigentlichen Sinne bedeutet: Shásanát tárayet yastu sah shástrah parikiirtitah – das heißt: “Shástra ist das, was die Menschen diszipliniert und befreit.”

Ein Guru muss also in der Shástra gut bewandert sein, sonst kann er den Menschen nicht den rechten Weg zeigen. Der Begriff Guru wäre eine irreführende Bezeichnung – was niemals wünschenswert ist.

Shástra bedeutet nicht notwendigerweise die Veden; es bedeutet den Weg zur Emanzipation durch das Verinnerlichen strenger Disziplin; es ist etwas, das verhindert, dass man sich im Namen der Freiheit etwas erlaubt. Es bedeutet klare Anweisungen, die jeden auf den Pfad führen, der zur Erlangung von Wohlergehen und Erfüllung führt.

Shásanát. Was ist dieses Shásana? Bedeutet es Folter? Nein. Bedeutet es Bestrafung? Nein. Bedeutet es Sühne? Nein. Ganz und gar nicht. Hier bedeutet shástra anushásana. Was ist Anushásana? Hitárthe shásanam anushásanam – das heißt: “Anushásanam bedeutet jenen Maß an korrigierender Bestrafung, das dem eigenen Wohlbefinden förderlich ist.”

Ein spiritueller Guru muss mit allen Vorgängen von Sádhaná vertraut sein, er muss die Fähigkeit haben, andere zu überzeugen, er muss eine vollständige Kenntnis der Schriften besitzen, er muss viele Sprachen beherrschen, er muss über umfassendes Wissen und Intellekt verfügen, und er muss noch einige zusätzliche Qualifikationen besitzen.

 

Korrigieren und lieben

Was sind diese Qualifikationen? Nigrahánugrahe shakto gururityabhidhiiyate – “der Guru muss die Fähigkeit besitzen, seine Schüler sowohl zu bestrafen [im Sinne von korrigieren] als auch zu lieben oder zu segnen.” Bestrafung allein, ohne Liebe, ist nicht gut. Liebe und Bestrafung sollten zusammengehören, und das Ausmaß der Bestrafung sollte niemals das Ausmaß der Liebe übersteigen. Nur dann kann man sich einen echten spirituellen Guru nennen.

Ich habe bereits gesagt, dass ein Guru eine Autorität auf allen Gebieten in allen drei Ebenen sein muss.

 

Das höchste Bewusstsein allein kennt das Geheimnis

Als spiritueller Guru muss er gründlich in der spirituellen Wissenschaft bewandert sein – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Er muss wissen, wie Parama Puruśa [Höchstes Bewusstsein] sich mit den jiivas [Einzelseelen] verbindet; und er muss wissen, wie die jiivas sich mit Parama Puruśa verbinden (sie verbinden sich so, wie der Ganges in den Golf von Bengalen mündet). Wie kann er sonst diese Wissenschaft anderen beibringen?

Und wer kennt diese Wissenschaft? Nur Parama Puruśa kennt sie, denn Er selbst hat alles erschaffen. Er hat unsere Sinnesorgane geschaffen, und Er hat die Tanmátras [Elementare Schwingungen] geschaffen, die unsere Sinnesorgane wahrnehmen. Er kann alles erschaffen, was Er will. Aber denkt daran: Er tut nichts. Sein “Tun” bedeutet Sein Denken. Die Dinge werden so Gestalt annehmen, wie Er denkt. Niemand außer Parama Puruśa weiß, wie Er es tut.

Wie können die Menschen also Parama Puruśa kennen, wenn Er anderen nicht die Wissenschaft lehrt, Ihn zu kennen? Nur Parama Puruśa kennt die Wissenschaft und die Methode, Ihn zu erkennen, Ihn zu wissen; denn Er hat sowohl die Menschen als auch den Weg, auf dem sie sich bewegen müssen, geschaffen. Die Menschen können also nur durch Seine Gnade die Methode kennen.

Daher heißt es im Ánanda Sútram: Brahmaeva Gururekah náparah – das heißt: “Brahma allein ist der Guru.” Durch Seine physische Struktur lehrt Er den spirituellen Aspiranten die eigentliche Wissenschaft. Die Menschen sollten dies klar verstehen.

 

Weltliches Wissen ist auch notwendig

Es gibt viele Menschen, die zu der Ansicht neigen, dass es im spirituellen Bereich keine Notwendigkeit gibt, intellektuelles Wissen für die Gotterkenntnis zu erwerben; und zur Unterstützung ihrer These führen sie die Namen einiger großer Männer an.

Nun ist es wahr, dass für die Gotterkenntnis eine akademische Qualifikation überhaupt nicht notwendig ist: Es gibt keinen Unterschied zwischen einem gelehrten und einem törichten Menschen. Aber um ein Guru zu sein, muss man ein gelehrter Mensch sein. Gotterkenntnis reicht für einen Guru nicht aus, er muss auch andere Qualifikationen besitzen. Eine Person, der es an Gelehrsamkeit, an Wissen über die Schriften und an der Fähigkeit fehlt, andere zu lehren, sowie an der doppelten Fähigkeit, seine Schüler zu bestrafen und zu belohnen, sollte niemals als spiritueller Guru akzeptiert werden.
Ein Guru ist nicht nur ein spiritueller Guru, er muss auch ein Guru für die intellektuelle und physische Welt sein.

 

Psychische Bedürfnisse erfüllen

Nach der spirituellen Ebene kommt die psychische Ebene, die gröber ist als die erste. Das heißt, der Guru muss sich der Natur des menschlichen Geistes bewusst sein – woraus er besteht, wie er Schritt für Schritt von der groben zur subtilen Ebene gehoben werden sollte, wie alle Einzelseelen gemeinsam auf das Ziel zugehen können – mit einem Wort, er muss sowohl die theoretische als auch die angewandte Seite der Psychologie kennen. Er muss tausendmal mehr wissen, als in den Büchern steht. Er muss sich alles durch seinen eigenen feinen Intellekt aneignen. Und nur dann kann er andere perfekt unterrichten.

Das zeigt, dass er nicht nur ein spiritueller Guru sein muss, sondern auch ein Guru in der psychischen Welt. Im menschlichen Geist herrscht ein Gefühl des Mangels. Jemand, der dieses Gefühl des Mangels beseitigen kann, ist ein Guru. Um sich als Guru zu qualifizieren, muss man die Macht haben, psychische Bedürfnisse zu beseitigen.

Wie im spirituellen Bereich, so muss auch im psychischen Bereich ein Guru gelehrt sein. Er sollte sich in den Geisteswissenschaften gut auskennen, und zwar in allen Bereichen des menschlichen Wissens. Um ein spiritueller Guru zu sein, reicht es aus, wenn er die heiligen Schriften beherrscht; um aber ein Guru im psychischen Bereich zu sein, muss er in allen Zweigen des menschlichen Wissens bewandert sein. Eine begrenzte Kenntnis einiger weniger Schriften reicht nicht aus. Und gleichzeitig muss er mit der Art und Weise vertraut sein, wie der menschliche Geist funktioniert, und auch mit der Methode, ihn richtig zu kontrollieren und zu lenken.

 

Weltliche Probleme lösen

Als nächstes kommt die physische Welt. Die Anhänger, die Jünger, des Gurus sind Männer und Frauen aus Fleisch und Blut mit physischen Strukturen. Sie haben ihre Sorgen und Nöte, ihre Tränen und ihr Lächeln. Das ist ihr Leben. Sie haben ihre Probleme mit Nahrung und Kleidung; sie haben ihre Freuden und Schmerzen, ihre Tränen des Schmerzes und ihre Tränen der Freude; sie werden beschwingt in glücklichen Umständen und bedrückt, wenn die Dinge schief gehen.

Es ist die Pflicht eines Gurus, seinen Anhängern das nötige Rüstzeug für ihren Fortschritt mitzugeben. Das ist es, was ein idealer Guru in der physischen Sphäre tun sollte. Als Guru in der physischen Welt muss er der Menschheit solche Techniken beibringen, die ihre weltlichen Probleme lösen – Probleme mit Nahrung, Kleidung, Bildung und medizinischer Versorgung. Ein Guru muss dafür sorgen, dass ihre weltlichen Probleme gelöst werden.

Um ein Guru zu sein, muss man also mit den höchsten Qualifikationen im spirituellen Bereich auf die Erde kommen und mit der größten Fähigkeit, sich den bergigen Hindernissen in der physischen Welt zu stellen. Die Verantwortung eines Gurus zu übernehmen, ist kein Kinderspiel.

 

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