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Das ursprüngliche Verteidigungsbündnis NATO ist längst zum Angriffsbündnis mutiert — und auch sein Verständnis von „Beitrittsfreiheit“ hat sich gewandelt.

In diesen Wochen ist oft die Rede von der Entscheidungsfreiheit der Staaten, was den Beitritt zu einem oder mehreren Bündnissen betrifft. Jeder Staat solle frei sein in der Wahl seiner Bündnisse. Dieser Grundsatz findet sich auch in den Papieren wieder, die von den USA, der Nato und der EU der Russischen Föderation zugestellt worden sind. Damit versucht man den Eindruck zu erwecken, dass es sich um eine Selbstverständlichkeit handeln könnte. Eine Selbstverständlichkeit wohlgemerkt, die von der Russischen Föderation völlig unberechtigt infrage gestellt werde.

Wenn man diese Erklärungen des versammelten Westens so stehen lassen würde, stünde die Welt gleichsam auf dem Kopf.

Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass neben dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz auch andere Vertreter des sogenannten „Wertewestens“ das landauf, landab verkünden. Das Wochenende in München bei der sogenannten Sicherheitskonferenz war von diesem Grundgedanken geradezu bestimmt. Nichts ist falscher, als diesen Gedanken wie eine Monstranz vor sich her zu tragen. Dazu tragen zwei Überlegungen bei, die jeder im Kopf haben sollte, der sich mit dieser Überlegung beschäftigt:

Erstens: Selbst dann, wenn man diesen Grundgedanken vertreten sollte, kommt man nicht daran vorbei, dass „zwei“ zu dieser Überlegung dazugehören. Derjenige, der einem Bündnis beitreten will, und derjenige, der dazu seine Zustimmung erteilen muss. Sollte keine Zustimmung nach Eingang eines Beitrittswunsches mehr erforderlich sein, dann handelt es sich um eine Zwangsveranstaltung, der man besser nicht den Begriff eines „Bündnisses“ attestiert.

Gerade der in den letzten Wochen zum Überdruss diskutierte Beispielfall der Ukraine macht das deutlich. Selbst dann, wenn die Ukraine den Beitrittswunsch zur Nato — wie geschehen — in die eigene Verfassung schreibt, um dem Begehr Nachdruck zu verleihen, bindet das Berlin oder Kopenhagen keinesfalls an diesen Beitrittswunsch eines Landes wie der Ukraine.

Es gehört zur internationalen Selbstverständlichkeit dazu, dass die Bündnispartner der Wunschformation eine umfassende Beurteilungspflicht bei einem Wunsch auf Beitritt zum Bündnis haben.

Es spricht für die tatsächliche Lage in der Nato, die faktische Ablehnung des ukrainischen Beitrittswunsches auf dem Bukarester Nato-Gipfel 2008 durch Sondermissionen und gewaltige Rüstungsprojekte in der Ukraine seitens der USA nicht nur unterlaufen zu sehen. Dadurch sollen Bindungswirkungen erreicht werden, die einem Beitritt zum Nato-Bündnis seitens der Ukraine entsprechen würden.

Ein derartiges amerikanisches Verhalten macht allerdings nur eines deutlich: Die Regeln des Bündnisses Nato werden im Interesse der Vormacht USA so umgebogen, wie man es benötigt, um die mangelnde Zustimmung bei einem Antrag auf Beitritt zur Nato zu unterlaufen.

Zweitens: Natürlich muss man feststellen, dass die Nato-Presse diesen Eindruck im Westen nicht aufkommen lassen will, nachdem zu einem Beitritt „zwei gehören“. Viel schlimmer und für uns alle geradezu lebensgefährlich ist die Tatsache, dass bei der Diskussion über einen Beitrittswunsch völlig ausgeblendet wird, wie die Nato als Bündnis außerhalb der internationalen Rechtsordnung agiert. Man tut der Rechtshygiene willen gut daran, sich bei der Änderung des Charakters der Nato vom Verteidigungsbündnis zur globalen Angriffsformation nicht der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichtes anzuschließen.

Allen Ernstes war dieses höchste deutsche Gericht der Ansicht, dass ein Wechsel der Nato von einer regionalen Verteidigungsorganisation zu einem weltweit agierenden Angriffsbündnis lediglich eine vertragsimmanente Weiterentwicklung sei.

Durch parlamentarische Zustimmung legitimiert

Der Deutsche Bundestag hatte dem Beitritt zur Nato seinerzeit als „regionales Verteidigungsbündnis“ zugestimmt. Dadurch wurde der Beitritt der Bundesrepublik völkerrechtlich wirksam. Dieser Weg hatte den Segen der Vereinten Nationen und der UN-Charta, weil diese Form des regionalen Bündnisses zur Verteidigung dort vorgesehen ist. Es wäre zwingend erforderlich gewesen, bei einer Änderung des regionalen Bezuges und dem Wechsel von der Verteidigung zur Angriffsformation diese Änderung den Parlamenten der Mitgliedsstaaten zur Genehmigung vorzulegen.

Da man diese Entscheidungskaskade unbedingt verhindern wollte und das negative Ergebnis von absehbaren Parlamentsdebatten glaubte absehen zu können, griff man schon im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien seitens der Nato im Frühjahr 1999 zu der Ersatzhandlung eines „Neuen Strategischen Konzeptes“ der Nato.

Damit wurde der Charakter der NATO, die sich bis zu diesem Zeitpunkt in Übereinstimmung zur Charta der Vereinten Nationen befand, ins Gegenteil verkehrt. Die Nato wurde zum globalen militärischen Arm der amerikanischen Kriegspolitik, die seit Belgrad 1999 nur Leid und Elend über die Welt gebracht hat.

 

Dieses politisch-rechtlich-militärische Umfeld muss in der heutigen Diskussion im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen den USA und in deren Gefolge der Nato und der Russischen Föderation gesehen werden.

Moskau muss vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Konferenz von Bratislava im April 2000 mit dem erklärten Ziel, Russland aus Europa herauszudrängen, davon ausgehen, durch die Nato als Bündnis um seinen Platz im gemeinsamen Europa so oder so gebracht zu werden. In einer Umwandlung eines berühmten Zitats von Bill Clinton müsste man es so formulieren: It’s Nato, stupid.

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Willy Wimmer, Jahrgang 1943, war von 1976 bis 2009 Abgeordneter im Deutschen Bundestag, zudem Verteidigungspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der KSZE/OSZE. Er führte weltweit Gespräche auf höchster staatlicher Ebene, insbesondere in Krisengebieten. Als ausgewiesener Experte für außen- und sicherheitspolitische Fragen ist er bis heute gefragter Interviewpartner im In- und Ausland. Seit 2014 verstärkte publizistische Tätigkeit. Von ihm erschienen bisher „Die Akte Moskau“ und „Deutschland im Umbruch“ sowie gemeinsam mit Wolfgang Effenberger „Wiederkehr der Hasardeure“ und gemeinsam mit Alexander Sosnowski „Und immer wieder Versailles“.

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Dieser Artikel erschien zuerst im Rubikon-Magazin.

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